paraflows.XII: apocalypse

Vom falschen Ende der Geschichte

Die letzte weltweite Krise, die sich binnen Kurzem ausgehend vom US-amerikanischen Immobilienmarkt zur Banken-, Finanz- und schließlich zur globalen Wirtschaftskrise inklusive diverser Staatsbankrotte und Konkurse von Weltunternehmen auswuchs, war kaum abgeklungen, schon kündigte sich 2015 in China ein neuer Bankencrash an. Wie es scheint, ist die althergebrachte Taktung aus dem Tritt geraten, in der die Ökonomie einen wellenförmigen Verlauf aufwies, und auf Abschwünge zuverlässig neue Aufschwünge folgten. Von einer periodisch wiederkehrenden Phase im Wirtschaftskreislauf hat sich die Krise zum Dauerzustand entwickelt.

Angesichts des abrupten Endes des Ost-West-Konflikts in den späten 1980ern hat der US amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ gesprochen, weil mit ihm jene weltpolitischen Widersprüche zum Verschwinden gebracht worden seien, denen sich menschliche Geschichte verdankt. Das siegreiche Modell des westlichen Liberalismus konnte sich nun ungehindert durch seinen geopolitischen Gegenpart, den Staatsozialismus, weltweit verbreiten. Es würde – davon war Fukuyama überzeugt – dem Individuum zu einem Höchstmaß an Freiheit, Handlungsmöglichkeit und Schutz vor staatlicher Willkür verhelfen. Damit könne die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens endlich in einen Zustand posthistorischer Harmonie eintreten.

Dem „Kalten Krieg“, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzte – als waffenstarrender Scheinfriede, aber auch in Form regionaler Stellvertreterkriege, die aus geostrategischen Motiven von den verfeindeten Machtblöcken entfacht und geschürt wurden –, wohnte noch ein geschichtsstiftendes Moment inne, weil sich der Konflikt in vielerlei übersetzte: in Kultur (z.B. indem Popmusik und Freizügigkeit ideologisch als westliche Propagandawaffen instrumentalisiert wurden), in technologische Innovation (unter anderem im so genannten „Space Race“) und in ökonomische Maßnahmen (mit denen etwa in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus aus bündnisstrategischen Gründen ein „Wirtschaftswunder“ heraufbeschworen wurde).

Als Sieger im Systemwettbewerb konnte „der Westen“ sein ökonomisch-politisches Modell ungehindert weltweit exportieren. Mit dem Verschwinden des Antagonisten setzte ein rasanter Transformationsprozess ein, der auch die westlichen Staaten fundamental veränderte, allerdings anders als Fukuyama das vorausgesagt hatte: Der wohlfahrtsstaatlich organisierte Kapitalismus der „Sozialen Marktwirtschaft“ wurde in atemberaubender Geschwindigkeit zu dem umgebaut, was oft begrifflich unscharf als „Neoliberalismus“ apostrophiert wird. Die „neoliberale“ Alternativlosigkeit lieferte dann alle gleichermaßen auf Gedeih und Verderb einem Markt aus, von dem behauptet wurde, er könne sich selbst und ebenso alles andere sinnvoll regeln.

Mit der prinzipiellen Vorstellbarkeit sozialistischer Gesellschaftsalternativen vor Augen – wie unzureichend oder falsch sie sich real auch immer verwirklicht finden mochten – musste die Zustimmung der Subjekte zur kapitalistischen Verwertungslogik noch mit relativem Wohlstand und sozialer Absicherung erkauft werden, die sich wiederum in prosperierende Binnenmärkte, Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften und die damit verbundenen individuellen Aufstiegsmöglichkeiten übersetzten. Das jedenfalls war das Erfolgsmodell des „Westens“, der sich als Herzland der Freien Welt verstanden wissen wollte.

Und mit etwas gutem Willen ließ sich bereits das als Fortschritt verstehen. Die Systemkonkurrenz belebte das Geschäft, und die fortschreitende Verbesserung der Lebensverhältnisse durch steigende Kaufkraft, soziale Absicherung und flächendeckende Gesundheitsversorgung konnte als geschichtliche Bewegung in die richtige Richtung interpretiert werden, an deren Ende der Mensch vielleicht tatsächlich kein geknechtetes, verlassenes und verächtliches Wesen mehr sein musste. Das „Ende der Geschichte“ hingegen gibt sich vor allem im zügigen Rückbau all dessen zu erkennen, was einmal die subjektive Zukunftsgewissheit zu heben vermocht hatte.

Viele Ereignisse, die sich seit den frühen 1990ern zugetragen haben, lassen sich unter dem Begriff des „Niedergangs“ subsumieren. Die Vielzahl lokaler und globaler Krisen scheint dabei auf eine allgemeine hinzudeuten, die eben erst begonnen hat und die mit einer atemberaubenden Dynamik immer weitere Teile der Welt in ihren Bann schlägt. Die ökonomische Krisenhaftigkeit angeschlagener oder bereits abgehängter Volkswirtschaften übersetzt sich in die verzweifelte politische Rückbesinnung auf Nation und (Staats-)Volk; die schleichenden Verelendungstendenzen, die auch innerhalb der ehemaligen Wohlstandsinseln Mitteleuropas und Nordamerikas weite Bevölkerungsteile erfasst haben, machen autoritäre Politikkonzepte wieder attraktiv – als Rettungsanker in den gefühlten Untergängen der Gegenwart. Zum Zeitpunkt der Niederschrift (Anfang September 2017) werden neben Ungarn und der Türkei auch die beiden ehemaligen Führungsstaaten der Ost-West-Konfrontation von Regierungen mit offen post-demokratischen, autokratischen und gefühlsnationalistischen Ambitionen regiert. Und erstmals seit 1989 rückt – ergänzend zu den zunehmenden konventionell geführten (Bürger-)Kriegen mit vielen Hunderttausend Toten – mit dem Nordkoreakonflikt und den iranischen Atommachtplänen das fast vergessene Horrorszenario des nuklearer Schlagabtauschs wieder in den Bereich des Möglichen.

In jener Welt, in der sich der symbolträchtige Fall der Berliner Mauer bald zum dreißigsten Mal jährt, herrscht permanenter Ausnahmezustand. Die häufig miteinander verflochtenen Zusammenbrüche und Katastrophen mehren sich rasant: ökonomisch (Dot-Com-Krise, Asienkrise, Argentinienkrise, Finanzkrise, die Griechenlandkrise der Europäischen Union), politisch (Somaliakrieg, Jugoslawienkrieg, Völkermord in Ruanda, „Nine-Eleven“, Nahost-Konflikt, Afghanistankrieg, Islamischer Staat, syrischer Bürgerkrieg und „Flüchtlingskrise“) usw. Zu jener Ruhe, die die Rede vom Ende der Geschichte suggeriert, wird die Menschheit wohl in absehbarer Zeit nicht kommen. Barbarei und der brutale Krieg aller gegen alle kennzeichnen das Bild; Menschenrechte, Freizügigkeit, Reisefreiheit, Selbstverwirklichung, Wohlstand, Pressefreiheit, der Pursuit of Happiness und was sonst noch seit 1945 als Argument für die offene kapitalistische Gesellschaft in Anschlag gebracht worden war – sie alle sind auch in den Staaten des „Freien Westens“ längst keine Selbstverständlichkeiten mehr.


Das Ende der Zukunft


Die Zukunft ist ein neuzeitliches Konzept. Erst der moderne Mensch, dessen Leben von der Erfahrung einer sich stets beschleunigenden historischen Dynamik geprägt war, in der technische Umbrüche, politische Veränderungen und kulturelle Paradigmenwechsel immer rascher aufeinander folgten, konnte sich die Zukunft als etwas vorstellen, das sich fundamental von der eigenen Gegenwart unterscheiden würde. Als perspektivische Verlängerung des menschlichen Fortschritts konnte sie jene Hoffnungen aufnehmen, die Thomas Morus – der Wortschöpfer des Begriffs „Utopie“ – noch auf ferne, unentdeckte Inselreiche projizieren musste. Für den mittelalterlichen Menschen hingegen war Zukunft nur als ewige Wiederkehr der schlechten Gegenwart denkbar. Wie sie schien auch die Zukunft unveränderlich zu sein und so starr, dass der einzige Lebensbereich, der sich sinnvoll mit der Hoffnung auf ein besseres Leben verknüpfen ließ, das Jenseits von Welt und Leben war.

Fukuyama wollte sein „Ende der Geschichte“ als „Happy Ending“ verstanden wissen, weil – endlich – jene historischen Kämpfe ausgestanden waren, in denen die Befreiungsgeschichte des Menschen aus politischer Abhängigkeit und Naturverfallenheit einmal entworfen wurde – mitsamt der ihr immanenten Widersprüche und allen dazugehörigen Aporien.

Mit dem Bankrott der sozialistischen Alternative zum siegreichen Kapitalismus war für ihn die letzte Entscheidungsschlacht geschlagen, auch wenn sich in Gestalt des politischen Islam bereits ein neuer Antagonismus abzeichnete, wie Fukuyama später einräumte.

Von heute aus war dieses „Ende der Geschichte“ aber vor allem ein Ende jener Zukunft, in der einmal ein anderes und besseres Leben hätte möglich werden können, dessen Verwirklichung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zwar stets noch ausstand, das aber dank des bereits erreichten Entwicklungsstandes der Produktionsmittel schon in prachtvollen Farben ausgemalt werden konnte – und sei es nur in Form von Science-Fiction-Erzählungen, deren Zukunftsentwürfe natürlich stets von den Problemen ihrer Entstehungszeit erzählen. Die Star Trek-Saga etwa zeigte ihren Zuschauer_innen eine Welt, der es schließlich doch noch gelungen war, die drängenden Versorgungs- und Verteilungsprobleme ihrer Zeit mittels so genannter „Replikatorentechnologie“ zu lösen. Mit ihrer Hilfe steht allen alles auf Knopfdruck zur Verfügung. Das mochte optimistisch und naiv wirken, aber bereits die 3-D-Drucktechnik, über die wir heute verfügen, gibt einen sehr konkreten Vorschein auf eine derartige Zukunft ohne materielle Nöte oder Engpässe, in der ein demokratischer Zugang zum gesellschaftlich verfügbaren Reichtum endlich auch technisch machbar wäre.

Und dennoch: Die Welt, in der der 3-D-Druck als heiße Anwärterin auf die Technologie der Zukunft gehandelt werden kann, scheint weiter denn je von der Vision umfassender Güterverteilung entfernt. Mit Blick auf die Entwicklungen seit 1992, als Fukuyamas Buch erschien, ließe sich das „Ende der Geschichte“ eher als endgültiger Zusammenbruch all jener Fortschritts- und Aufklärungsideen verstehen, in deren Namen die menschliche Geschichte einmal vorangetrieben wurde und in deren Perspektive selbst Zusammenbrüche, Krisen und Kriege einen „historischen Mehrwert“ abwarfen: als die bisweilen grausame Durchsetzungsmomente einer besseren Zukunft.

Vom anderen „Ende der Geschichte“ her betrachtet scheinen alle Exponent_innen der Hoffnung auf ein wirkliches Ende der Geschichte (im Sinne Hegels) desavouiert: Technologie, „Freiheit“, Demokratie usw. Sie haben es nämlich allesamt nicht vermocht, eine bessere Wirklichkeit zu erschaffen. Ja, bisweilen wirkten sie eher wie Brandbeschleuniger, wie etwa die Einführung der Privatwirtschaft in den ehemaligen Ostblockstaaten. Mit ihr wuchs zwar der individuelle Handlungsspielraum derjenigen, die sich entsprechende Produktionsmittel aneignen konnten, zugleich verengte sie ihn aber auch wieder für die, die dazu nicht in der Lage waren. Die Kluft zwischen den Profiteur_innen der neuen Freiheit und den Verelendungstendenzen, die ihr Geschäftsmodell darstellen, weitet sich beständig aus. Und je größer die Wahlmöglichkeiten werden, desto weniger Wahl bleibt den Verlierer_innern des Systemwechsels. Sie sind den neuen marktwirtschaftlichen Verhältnissen ebenso schutzlos ausgeliefert wie noch wenig zuvor den politischen des Realsozialismus. Statt wirklich frei zu werden, verstrickte sich das Individuum (auch auf Seiten der Gewinner_innen) nur umso unentwirrbarer im Verwertungsprinzip, das seither umfassend über sein Leben gebietet und ihm mit jeder neuen technischen Innovation nur umso dichter auf den Leib rückt.

Die digitale Technologie beispielsweise hat die alte Aufspaltung des Lebens in Phasen der Produktivität (in der das Subjekt seine Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen musste) und der Unproduktivität (die die Reproduktion der verbrauchten Arbeitskraft ermöglichen) hinter sich gelassen. Sie war nur das historische Ergebnis einer Arbeitsweise bzw. eines Verwertungsprinzips, dem noch Grenzen gesetzt waren, weil es an stationäre Orte (wie die Fabrik) gekoppelt war.

Das Subjekt der fordistischen Fabrik war das Produkt einer statischen, weil ortsgebundenen Wertschöpfung, die sich am rationellsten da betreiben ließ, wo ihr immer wieder ausgeruhte, frische Arbeitskraft zugeführt wurde. Das postfordistische Subjekt der Wissens- und Informationsgesellschaft steht dagegen tendenziell immer unter Strom, seine Arbeitsmittel trägt es – in Form von Laptops, Smartphones oder Handhelds – stets mit sich herum. Die informellen Arbeitsverhältnisse der Gegenwart setzen der (Selbst-)Ausbeutung tendenziell keine Grenzen. Und der steigende Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt lässt es kaum ratsam erscheinen, sich ihr zu verweigern. Schlafen kann nur noch, wer ökonomisch sowieso schon tot ist.


Dystopia


Ein „Ende der Geschichte“ scheint sich also nur negativ eingestellt zu haben, weil jene Fortschrittserwartung, in der sich individuelle Emanzipation, technische Entwicklung und politische Mitbestimmung zu einer allgemeinen Verbesserung des Lebens verbinden, an der Allgegenwart der gegenwärtigen kapitalistischen Weltordnung blamiert wurde. Sie erinnert eher an jene dystopische Variante der Science Fiction, in der Zivilisation und Barbarei bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmolzen sind. Und selbst die Gewissheit, dass individuelle Freiheit und Rechte sich wenigstens als Abfallprodukt kapitalistischer Verhältnisse einstellen, hat sich am Beispiel der nachholenden Vermarktwirtschaftlichung Chinas als Trugschluss erwiesen.

So genannte Failed States (bezeichnenderweise tauchte der Begriff erstmals zu Beginn der 1990er Jahre auf), die die staatlichen Grundfunktionen nur noch mit Not oder schon überhaupt nicht mehr aufrechterhalten können, mehren sich mit beunruhigender Geschwindigkeit. Große Regionen Afrikas sind bereits in Anomie versunken, während die Regierungen in Afghanistan und Irak noch verzweifelt dagegen ankämpfen. Der anfangs einhellig als Reformbewegung begrüßte arabische Frühling hat sich als Spielfeld von Gotteskrieger_innen erwiesen, die nicht im Geringsten daran interessiert sind, den Menschen ein besseres Leben jenseits religiöser Vorschriftenkataloge zu ermöglichen. Der Vorstoß des Islamischen Staates in das neu entstandene Machtvakuum drohte Teile des Nahen Ostens ins Chaos zu stürzen. Und obwohl er gerade zur Erleichterung der Weltöffentlichkeit aus seinen letzten Machtzentralen vertrieben wird, heißt dass noch lange nicht, dass sich damit das Leben derjenigen, die das Kalifat überlebt haben, zum Besseren wenden wird. Ein Wirtschaftswunder als Starthilfe wird ihnen niemand bereiten.

Die negative Aufhebung des Staates zugunsten einer lokalen Willkürherrschaft von Warlords und fundamentalistische Sinnangebote stellen das exakte Gegenteil jener freien Assoziation freier Individuen dar, die sich marxistische und anarchistische Utopien dereinst erträumten. Sie festigen nur jene Herrschaft des Menschen über den Menschen, der der bürgerliche Staat immerhin noch Grenzen setzte. Die Geflüchteten aus den gescheiterten Staaten des Nahen Ostens und Afrikas führen uns drastisch vor Augen, dass diese Länder nicht einfach nur unregierbar, sondern schlicht unbewohnbar geworden sind, unter anderem weil der rücksichtslose Raubbau an der Natur, den die kapitalistische Verwertungslogik befiehlt, inzwischen katastrophale Ausmaße angenommen hat. Wie es aussieht, wird er bald an seine „äußerste Naturschranke“ (Robert Kurz) stoßen. Schon jetzt hat er die Lebensgrundlage vieler Millionen Menschen vernichtet – nicht nur durch den Klimawandel. Die Naturkatastrophen der letzten Jahre (El Niño, der Tsunami im Indischen Ozean, das T?hoku-Erdbeben, das u. a. zur Reaktorkatastrophe von Fukushima geführt hat und ganz aktuell die Rekord-Hurricanes des Spätsommers 2017) geben einen ersten Vorgeschmack dessen, was uns in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht. Selbst das ambitionierte Ziel, die Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf „nur“ 2 Grad einzudämmen, hätte bereits verheerende Auswirkungen. Noch ist allerdings längst nicht geklärt, ob und wie es sich überhaupt erreichen lässt. Das Pariser Klimaschutzabkommen vom Dezember 2015 hatte diesbezüglich aber zumindest symbolischen Wert, weil sich die 195 Unterzeichnerstaaten die Dringlichkeit der Situation einbekannten. Dass nun aber mit den USA einer der wichtigsten Treibhausgasproduzenten das Abkommen aus kurzsichtigem nationalwirtschaftlichem Protektionismus aufgekündigt hat und sowohl Putin als auch Erdogan laut über seine generelle Sinnhaftigkeit nachdenken, gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass die in nationalstaatliche Partikularinteressen zerfallene Menschheit wenigstens ihre drängendsten Probleme lösen können wird.

Menschen aus dem globalen Süden werden sich also solange verzweifelt und jeglicher Perspektive beraubt auf den Weg in den Norden machen wie die Zerstörung ihrer lokalen Lebensbedingungen noch Profit abwirft. Ihnen wird (der exkludierenden Logik des Nationalstaates bzw. der „Festung Europa“ folgend) schon bald militärisch begegnet werden müssen. Längst ist es nicht mehr unvorstellbar, die Boote auf dem Mittelmeer nicht bloß sich selbst (und die Insass_innen ihrem Schicksal) zu überlassen, sondern sie gezielt zu versenken, um die relative Wohlstandsenklave Europa vom Elend der restlichen Welt abzuschirmen. Die deutsche AfD (eine deutsche Parteineugründung, die vom rechten Rand des bürgerlichen Spektrums die Öffnung zu rechtsradikalen Kräften und Positionen betreibt, die somit erstmals seit 1945 wieder gesellschaftlich hoffähig werden könnten) hat 2016 erstmals die Forderung erhoben, die Grenzen mit Waffengewalt zu verteidigen. In Wahlumfragen lagen sie kurz darauf bei fast 15 Prozent Stimmanteil.

Die durchaus überraschende Solidarität, mit der Europa im Herbst 2015 auf die Not syrischer Kriegsgeflüchteter (nach Jahren der rücksichtslosen Flüchtlingsabwehr) reagierte, scheint angesichts ihres unverminderten Zustroms abzuklingen. Die europäischen Regierungen bemühen sich schon wieder um harte und menschenverachtende Krisenbewältigungsstrategien ohne nennenswerten Widerspruch seitens ihrer Wähler_innen befürchten zu müssen. Und sie hofieren Staaten wie die Türkei und Ungarn, die, ähnlich wie vor ihnen der libysche Diktator al-Gaddafi, bereit sind, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn es politischen und anderen Profit abwirft. In einem unfassbar zynischen Menschenhandel werden sie von der EU dafür bezahlt, Schutzsuchende auf brutale Weise festzuhalten. Menschenrechte oder die berühmte „Würde des Menschen“ spielen dabei keine nennenswerte Rolle mehr. Als Verhandlungs- und Manövriermasse für Diktator_innen und Post-Demokrat_innen kann aus ihrer Not politisches Kapital geschlagen werden – und natürlich ökonomisches, wie es private Grenzschutzagenturen ja schon seit längerem vorexerzieren.

Aber auch ohne Massenflucht aus dem Süden sieht die allernächste Zukunft für die reichen Staaten des Nordens alles andere als rosig aus. Mit der soeben angebrochenen Vierten Industriellen Revolution droht ihnen eine fundamentale Systemkrise, weil selbstfahrende Autos und selbstständige Produktionseinheiten in absehbarer Zeit zahllose Arbeitsplätze überflüssig machen werden – Schätzungen zufolge könnte es sich um weit mehr als 20 Prozent der derzeit versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse handeln. Millionen Menschen, die im Moment noch Arbeit haben, die ihnen ein wenigstens halbwegs erträgliches Leben garantiert, werden vom kapitalistischen Zwang zur Rationalisierung also demnächst in die Nichtmehrverwertbarkeit entsorgt werden. Aber selbst aus ihr lässt sich noch Profit schlagen. Das scheint zumindest das Geschäftsmodell der in den USA boomenden privatwirtschaftlich geführten Gefängnisse zu sein, die die ihnen Überlassenen als quasi (arbeits-)rechtlose Leibeigene zu Niedrigststundenlöhnen vermieten, während die US-amerikanische Politik mit neuen Gesetzen dafür sorgt, dass ihnen das Menschenmaterial nicht ausgeht. Die härtere Linie, die im Rahmen des so genannten „War on Drugs“ verfolgt wird, zielt dabei in durchaus auffälliger Weise auf jene ab, die aus dem kapitalistischen Verwertungsprinzip ohnehin bereits heraus gefallen sind – wie sich am eklatant unterschiedlichen Strafmaß für gleiche Mengen von Crack und Kokain zeigt. Es liegt nahe, darin ein Urteil über die jeweiligen Konsument_innen (bzw. die medial verbreitete Vorstellung von ihnen) zu sehen: Crack gilt als Droge der Abgehängten; Kokain ist das geheime Schmiermittel, das die Welt der Reichen, Schönen und Produktiven am Laufen hält – in Chefetagen und in der Kreativwirtschaft, in Washington, Hollywood und an der Wall Street.

Was die Länder des Nordens möglicherweise noch auffangen können – und sei es nur durch entmündigende sozialtechnische Maßnahmen (wie die deutschen Hartz IV-Gesetze) –, zieht in Schwellenländern, wohin die Produktionsanlagen der „Ersten Welt“ aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus eben erst ausgelagert wurden, viel dramatischere Verelendungstendenzen nach sich.

Und: Die Formen informellen und undokumentierten Erwerbs – als wenig glamouröse Überlebensstrategien der überflüssig Gewordenen – werden durch die zunehmende Transparenz im Netz oder den angestrebten bargeldlosen Zahlungsverkehr immer weiter ausgetrocknet. Auch wenn all das mit dem Kampf gegen Terror, organisierte Kriminalität und Steuerbetrug begründet wird, wird es natürlich vor allem zu Lasten derjenigen gehen, die nicht über die Möglichkeiten von Drogenkartellen und Unternehmen verfügen, um sich entsprechend abzuschirmen.

Dies sind nur wenige Beispiele für die allgemeine Tendenz zur Verschlechterung eines Lebens, das in vielen Fällen ohnehin nur noch die Organisation des täglichen Überlebens darstellt. Es besteht wenig Aussicht darauf, dass es sich in absehbarer Zeit zum Besseren wenden wird.

Im Zusammenspiel all dieser Faktoren deutet sich vielmehr die Aussicht auf einen weitgehenden Zusammenbruch an, der, wie viele glauben, die einzige Chance auf Veränderung beinhaltet: als Neustart mit dem Willen, es diesmal anders zu machen und die Welt vernünftig einzurichten.

Das derzeit heftig diskutierte Akzelerationistische Manifest spricht in provokanter Manier davon, dass die gegenwärtige Krise vorangetrieben werden müsse. Alle Gegenmaßnahmen wirkten kontraproduktiv und würden das Unvermeidbare bloß hinauszögern. Die Frage, die sich hier stellt, ist allerdings, welche  unmittelbaren Folgen ein Systemkollaps hätte. Das Ende des Ostblocks hat u. a. zu zahllosen Bürgerkriegen geführt und die Wirtschaftskrisen seit 1990 haben Millionen von Menschen ins Elend gestürzt. Und selbst dort, wo sich die Verhältnisse wieder konsolidiert oder wenigstens etwas beruhigt haben, lässt sich keine fundamentale Veränderung feststellen. Im Gegenteil wird einfach weitergemacht wie zuvor, ohne tiefer reichenden Lerneffekt.


Die Systemkrise und das System der Krisen


Insgesamt erscheint es also durchaus fragwürdig, den Zusammenbruch des Kapitalismus als reinigendes Gewitter zu imaginieren. Immerhin sind die Psyche und das Denken der Subjekte bis in ihre Tiefenschichten hinein von seinem Verwertungsparadigma kolonialisiert worden; eine Prägung, die sich wohl kaum durch den Entzug der damit korrespondierenden Formen von Politik und Ökonomie austreiben lässt.

Materialistisches emanzipatorisches Denken muss sich daher notwendigerweise zunächst auf einen Ausgangspunkt verständigen: Nur gesellschaftlicher Wohlstand auf der Basis einer vernünftig (und das heißt nicht-kapitalistisch) eingerichteten Produktionsweise kann Grundlage für die freie Entfaltung der freien Individuen sein. Dass sich diese aber unter den Bedingungen des totalen Zusammenbruchs entwickeln wird, ist wenig wahrscheinlich.

All die geschilderten Krisensymptome folgen keineswegs der Entfaltung eines immanenten und daher unausweichlichen Niedergangs von (Kultur- bzw. Zivilisations-)Geschichte ähnlich demjenigen, den Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes postuliert hat. Ebenso wenig sind sie Effekt einer allgemeinen „menschlichen Natur“, die zu gegenseitiger Unterdrückung und Ausbeutung verpflichtet  Die Krisendynamik der Gegenwart folgt keiner anderen Logik als der jenes ökonomisch-politischen Systems, das zu Beginn der 1990er als Sieger aus einem knapp fünfzig Jahre währenden Systemwettbewerb hervorgegangen ist.

Für die meisten der gegenwärtigen wie der kommenden Krisen ist jenes Verwertungsprinzip verantwortlich, das individuellen Profit über Gemeinwohl stellt. Sie sind Ausdruck der Widersprüche einer Ideologie, die auf dem ökonomischen Zwang zu expansivem Wachstum und steigender Profitrate beruht, und brechen immer wieder in meist unvorhersehbarer Weise und an unerwarteten Orten auf. Von dort aus pflanzen sie sich dann nach Art eines „Dominoeffektes“ fort in Form von Währungsabwertungen, Staatsbankrotten, Staatsverschuldung zwecks Rettung „systemrelevanter Banken“, Missernten, Hungersnöten und militärischen Konflikten. Und die treffen stets jene am härtesten, die ihnen am schutzlosesten ausgeliefert sind.

Bereits Karl Marx hat darauf verwiesen, dass hierfür keineswegs das individuelle Fehlverhalten einzelner – etwa mangelnde Moral oder jene übermäßige Gier, die die beliebte Rede vom Heuschreckenkapitalismus impliziert – verantwortlich zu machen ist, sondern jenes Verwertungsprinzip, das alle gleichermaßen – ob arbeitslos oder in führender Position – durchdringt und ihre Handlungen und Reflektionsformen präfiguriert. Sie alle sind unter den gegebenen Bedingungen abhängig von jenem Wachstumszwang, der die gelingende Produktion von Mehrwert ermöglicht. Wer dessen Auswirkungen in den Exponent_innen eines falschen Bewusstseins hypostasiert – meist ohnehin nur zum Zweck, sich selbst als Träger des richtigen auszuweisen –, verstellt bloß den Blick auf jene abstrakte Totalität, die alle konkreten Erscheinungen durchformt. In ihr sind alle gleichermaßen unfrei. Auch wenn sie mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten ausgestattet sein mögen, bleiben sie Marionetten einer Ökonomie, die auf beinahe gespenstische Weise ein Eigenleben führt.

Die gegenwärtigen Krisenverläufe lassen sich unter einer gewissen Perspektive auch als Selbstreinigungs- oder Häutungsprozesse des Systems deuten. Was in Simulationsmodellen durchaus Sinn macht, wirkt sich real allerdings – nämlich in der Realität der davon Betroffenen – katastrophal aus. Für die meisten jedenfalls. Die ökonomische Krise als die inhärente Wahrheit der Verwertung übersetzt sich dabei in andere: in politische, in „humanitäre“, in jene der Empathiefähigkeit usw. Auch die Armutsflucht aus dem globalen Süden ist nur ein „Nebeneffekt“ jener verheerenden Wachstumslogik, die die ökonomische und ökologische Lebensgrundlage der Geflüchteten gnadenlos zerstört hat.

Österreichische Politiker_innen sprechen – wie ihre Kolleg_innen in anderen Ländern – gerne davon, dass sie die einheimische Wirtschaft nach vorne bringen und gegen die weltweite Konkurrenz stark machen wollen. Sie soll einen Platz an der Spitze einnehmen, weil nur auf diese Weise die hiesigen Arbeitsplätze erhalten werden könnten. Genau das wollen ihre Wähler_innen hören, weil es ihnen das trügerische Gefühl von Sicherheit im Rahmen einer funktionierenden Nationalökonomie vermittelt. Bei Lichte betrachtet bedeuten derlei Absichtserklärungen aber nichts anderes als die Konkurrenz zu verdrängen. Die Beschwörung der nationalen Wirtschaftskraft, wie wir sie aus unzähligen Wahl- und Einweihungsreden kennen, spricht von der Ökonomie als Krieg mit anderen Mitteln.

Im weltweiten Kampf um den Vorteil des eigenen Unternehmens (und nichts anderes stellt der bürgerliche Nationalstaat dar) geht es nicht um faires spielerisches Kräftemessen auf symbolischem Terrain (nämlich dem Fußballplatz oder der Aschenbahn), sondern um die physische Vernichtung der anderen, die zumindest billigend in Kauf genommen wird. Jeder ökonomische Erfolg und jede Durchsetzung auf dem Markt beruht hierauf. Sie sind bitterer Ernst, der keine Gnade erlaubt. Wer andere aus dem Feld schlägt, erhöht die eigenen Überlebenschancen – als Individuum und als nationale Schicksalsgemeinschaft. Die Arbeitsplätze, die hierzulande gesichert werden, gehen anderswo verloren. Von nichts anderem reden diejenigen, die Österreich an die Spitze bringen wollen. Und sie tun es, weil sie wissen, dass ihnen unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen gar keine andere Wahl bleibt. Gewinner_in-Sein lässt sich nur, wo es auch Verlierer_innen gibt, solange Solidarität zwischen den Subjekten und Nationalökonomien jene Schwäche im Konkurrenzkampf bedeuten würde, die sich stets rächt. Der Krieg aller gegen alle wurde bis in die alltäglichen Sprach- und Denkformen hinein habitualisiert. Er bestimmt das Handeln und das Bewusstsein der Subjekte, die ihm vollkommen ausgeliefert sind. Und jeder weitere Zusammenbruch wird dabei nur neues Öl in einen längst lodernden Flächenbrand gießen.


Was tun?

Wir alle sind dem Verwertungsprinzip unterworfen – und damit jenen Krisen, die es gleichsam automatisch nach sich zieht. Sie betreffen uns als Individuen wie als Produzent_innen von Kultur. Unser Bewusstsein von seinen inhärenten Zusammenhängen schützt uns aber keineswegs davor, es in unserem Handeln immer wieder zu reproduzieren und voran zu treiben.

Mit diesem Widerspruch, der jedes Subjekt und jede kulturelle Produktivität durchdringt, muss sich auch die Digitale Kultur auseinandersetzen, wenn sie mehr sein will als ein weiteres Rädchen im Getriebe des falschen Ganzen. Gerade sie bezieht ihr Selbstverständnis daraus, sich mit dem technischen Fortschritt gleichsam auf Augenhöhe zu befinden und damit immer auch an der „vordersten Front“ der politischen und ökonomischen Krisenverläufe zu stehen.

Das paraflows-Festival möchte sich daher 2017 vor allem mit der Frage beschäftigen, was sich der aktuellen Krisendynamik und ihren miteinander verwobenen politischen, kulturellen, ökonomischen, ökologischen und „humanitären“ Katastrophenszenarien entgegensetzen lässt. Dabei geht es ganz zwangsläufig natürlich auch um die Frage, ob der dringend nötige Wandel hin zu solidarischen Wirtschafts- und Lebensformen gelingen kann, und was es konkret braucht, um dem emanzipatorischen Potential der Technologie im allgemeinen und der digitalen Technologie im besonderen zur Entfaltung zu verhelfen.

Um diese Frage aber wirklich entscheiden und in kulturelles Alltagshandeln übersetzen zu können, ist es unabdingbar, das zivilisatorische und allgemeinmenschliche Fortschrittsmoment des Technischen trennscharf vom bloß technokratischen ökonomischen Fortschritt (im Sinne einer Optimierung der verwalteten Welt, von der Adorno bereits in den 1950ern gesprochen hat) zu unterscheiden. Wo und inwieweit verhilft eine technologische Innovation ihren Nutzer_innen wirklich zu einer freien und selbstbestimmten Lebensweise; und wo ist sie bloß Stagnation auf dem vergleichsweise hohen Entwicklungsniveau des postfordistischen Kapitalismus? Wo verschafft sie uns tatsächlich neue Möglichkeiten und wo befriedigt sie nur jenes Bedürfnis nach Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung, das uns von der Verwertungslogik implementiert wurde?

Diese Frage lässt sich nicht beantworten, ohne den Doppelcharakter der kapitalistischen Technologiegeschichte in den Blick zu nehmen, in der sich utopische und dystopische Momente vielfach überlagern und das individuelle Glück der Kund_innen zur Schwundstufe einer sozialen Utopie geworden ist, in der das Konsument_innenglück, etwas sehr günstig erworben zu haben, mit dem Produzent_innenunglück, etwas zu einem Hungerlohn herstellen zu müssen, erkauft wird und die schnelle und unkomplizierte Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen zu Lasten allgemeiner Ressourcen geht.

Der unbedingte und in sich selbst technokratische Glaube an die instrumentelle Lösbarkeit konkreter gesellschaftlicher Probleme und nicht zuletzt: an die technische Machbarkeit der Utopie, wie er in der digitalen Community häufig unreflektiert zirkuliert, kann also gerade dazu beitragen, sie in ihr dystopisches Gegenteil umschlagen zu lassen. Dem bleibt die Erwartung der digital verbesserten Welt so lange ausgeliefert, wie sie sich von der eigenen Problemlösungskompetenz berauscht über jene Dialektik von Möglichkeit und ökonomischer Notwendigkeit erhaben glaubt, die die Entfaltung der modernen Produktivität seit Erfindung der Dampfmaschine begleitet hat.

Die technische Durchdringung der Welt, wie wir sie als Digitale Kultur jeden Tag aufs Neue ins Werk setzen helfen, benötigt ein Wissen um jene Ökonomie, der sie sonst nur betriebsblind zuarbeitet. Im Prinzip der Digitalität liegt sowohl die Möglichkeit einer solidarischen und freien Gesellschaft begründet wie die zu tief in den Subjekten verankerter (Selbst-)Ausbeutung; und es liegt auch an uns als User_innen, was davon wir verwirklichen wollen.

Erstmals in der Geschichte der Menschheit verfügen wir über schnell und einfach reproduzierbare Produktionsmittel, die keinen materiellen Raum mehr einnehmen, kaum noch Rohstoffe verschlingen und daher auch nichts mehr kosten müssten. Über das Internet können sie schnell und einfach weltweit distribuiert und kollektiv weiterentwickelt werden. Die Tendenz zur Vergesellschaftung ist ihnen also bereits ihrer Form nach eingeschrieben, weil sie ihre materielle, kapitalintensive Form gegen den digitalen Code eingetauscht haben. Zwar benötigen sie noch immer ein Gerät, das sie verarbeiten kann – und auch das gibt es leider immer noch nicht umsonst –, aber es hat sich längst vom konkreten Gegenstand mit streng begrenzter Funktionsweise in ein Universalwerkzeug entwickelt.

Mit der Digitalisierung fällt (wenn vorerst auch nur tendenziell und perspektivisch) eine der größten Hürden auf dem Wege zur Befreiung des Menschen aus dem kapitalistischen Zwangsverhältnis weg, das im Laufe der Zivilisationsgeschichte die Abhängigkeit von der Natur als menschliches Schicksal beerbt hat: Die statische, weil in straff organisierten Produktionsstätten gebundene Produktivkraft des Industriezeitalters musste vom Proletariat noch unter Einsatz seines Lebens von ihren Besitzer_innen zurückerobert und (im Sinne ihres technischen Verständnisses) angeeignet werden. Wie die Produktionsmittel funktionieren muss im digitalen Zeitalter nicht länger ein Geheimnis bleiben, das nur Eingeweihte kennen. Schaltpläne, Bau- und Reparaturanleitungen stehen fast ebenso schnell online, wie sie benötigt werden, und es bedarf schon eines ausgesprochen restriktiven Urheberrechts, um den digitalen Informationsfluss noch einmal einzuhegen.

Dass aber bis auf Weiteres der Versuch unternommen werden wird, die Möglichkeit zur sozialen und technologischen Vernetzung im Namen individueller Verwertungsinteressen zu reglementieren, zeigt, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen darüber entscheiden, wie die Technologie in unser Leben tritt: als Verhängnis oder als Ermächtigungsprinzip. Im Kontext einer an individueller Profitmaximierung ausgerichteten Produktionsweise bleibt sie eine Dystopie, weil sie in schneller Folge zahlreiche Wirtschaftszweige und mit ihnen diejenigen überflüssig machen wird, die dort ihr ökonomisches Überleben organisieren. Die Verbesserung des Lebens der Nutzer_innen (etwa durch Streamingdienste) ist mit der Verschlechterung des Lebens derjenigen erkauft, deren materielle Existenz davon unmittelbar betroffen ist.

Diesen Konflikt, der in vielerlei Gestalt unser alltägliches User_innendasein bestimmt (und sei es nur in dem relativ banalen Ärgernis, dass ein bestimmter Clip auf YouTube in dem Land nicht verfügbar ist, in dem wir ihn gerade abrufen wollen), müssen wir als Digitale Kultur politisieren, um ein Bewusstsein davon wachzurufen, was einerseits auf digitalem Wege möglich wäre und warum es andererseits eben (noch) nicht möglich sein darf.

Es stellt sich jedoch nicht die Frage nach der konkreten Gestalt oder Form von Technologie, sondern die nach ihrer Eingebundenheit in jenes Falsche, das sie ebenso aufheben und abschaffen wie tiefer ins Subjekt verankern kann. Sie lässt sich nicht aus einer rein technokratischen Designer_innen Perspektive beantworten – ein ideologischer Kurzschluss, dem vor allem die Digitale Kultur der Hacker_innen und Entwickler_innen in ihrer Geschichte immer wieder aufsaß. Das Technische ist nicht ohne das Gesellschaftliche zu denken – ohne die soziale Anwendungsdimension und ohne den politischen und ökonomischen Rahmen, in dem sich technologisches Handeln notwendigerweise vollzieht.

Um zu einem wirklich emanzipatorischen Gebrauch der Technologie zu gelangen und die umfassende Verwertungskrise, in die sich der Kapitalismus immer tiefer und immer offensichtlicher verstrickt, aufzulösen – um also der Dystopie eine Utopie entgegenzusetzen, bedarf es einer Reflektion unserer technischen Mittel wie ebenso unseres Selbstverständnisses als Digitale Kultur.

Dies führt zu einer Reihe von Fragen, die um die Möglichkeit einer digital verbesserten Welt kreisen; das paraflows-Festival 2017 möchte sie daher als die zusammenhängende stellen: als die nach der Zukunft der Menschen, in der sie sich entweder als Leibeigene der ökonomischen Verhältnisse oder als freie Individuen wiederfinden werden.

In diesem Sinne gibt es einiges zu diskutieren:

Wie lassen sich unter den gegebenen Bedingungen ökologische Grenzen respektieren, Menschenrechte achten und ein schranken- und bedingungsloses Solidaritätsprinzip durchsetzen?

Ist das zum gegenwärtigen Stand überhaupt noch möglich – oder bedarf es erst großer Katastrophen, um eine grundlegende Veränderung und ein allgemeines Umdenken, ja, eine Ökonomie, die sich nicht am individuellen Profit, sondern am allgemeinen Wohlstand orientiert, auf den Weg zu bringen? Macht es also überhaupt Sinn, zu intervenieren oder sollten wir den Dingen lieber ihren Lauf lassen? Welche Chancen bestehen, dass wir den Kollaps, auf den die Menschheit aktuell zusteuert, sinnvoll zum Wiederaufbau nutzen können – und das im Sinne einer anderen, krisensicheren Form des Zusammenlebens und Produzierens?

Und wie müsste der Zusammenbruch – von dem z. B. der Akzelerationismus träumt – aussehen? Welche Kollateralschäden können und wollen wir in Kauf nehmen, um auf den Trümmern der alten eine neue Ordnung zu errichten? Und wie können wir garantieren, dass wir uns an seinem anderen Ende nicht in einer grauenvollen Endzeitwelt wiederfinden, wie wir sie aus den Filmen der Mad Max-Reihe kennen? Wie können wir den Umschlag der Zivilisation in die Barbarei verhindern? Wie und wo müssten wir dabei eingreifen? Oder führt das eine vielleicht sogar automatisch zum anderen? Und wenn ja, was können wir dazu beitragen, den Zusammenbruch in allerletzter Sekunde doch noch abzuwenden oder wenigstens abzumildern?

Welche Funktion haben überhaupt wir selbst in der gesellschaftlichen Totalität? Was tragen wir dazu bei, den permanenten Ausnahmezustand spätkapitalistischer Wirklichkeit aufrechtzuerhalten? Wo und in welcher Weise profitieren wir davon? Und wie können wir uns selbst, unser Verhalten und unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Unheil der Anderen kritisieren, ohne es damit zum persönlichen Problem zu machen und ihren höheren Zusammenhang – die gesellschaftliche Totalität als solche – aus dem Auge zu verlieren?

Wie können wir es überhaupt schaffen, diese Totalität in den Blick zu bekommen, anstatt uns bloß mit jenen Effekten und Symptomen herumzuschlagen, in denen sie uns in unserem (digitalen) Alltag immer wieder in die Quere kommt – etwa in Form von Copyrights oder restriktiven Benutzer_innenoberflächen, die uns den Zugang zu unseren Geräten als den Produktionsmitteln nicht nur unserer (digitalen) Wirklichkeit verwehren?

Wie lassen sich – gerade angesichts der Ausweglosigkeit des Bestehenden – alternative Modelle entwickeln, propagieren und durchsetzen? Welche besonderen Möglichkeiten und Handlungsspielräume, welche Potentiale und subversiven Gehalte stecken in der besonderen Form des Digitalen und in der von ihm hervorgebrachten Kultur?

Welche Rolle spielt die Technologie – allgemein und insbesondere die digitale Technologie in all dem: als treibende Kraft und als konkrete Gestalt, in der den Menschen tagtäglich das Verwertungsprinzip gegenübertritt? Welchen Spielraum räumt sie uns ein und wo sind wir selbst als Digitale Kultur Getriebene in ihm?

Worauf müssen wir uns in Zukunft einstellen? Was dürfen wir langfristig erwarten? Und: Wie können wir uns von Nerds mit Spezialinteressen und den von ihnen erzeugten sehr spezifischen Anliegen wieder in Menschen zurückverwandeln, die die gleichen Probleme haben wie alle anderen auch und die gerade deswegen mit ihnen solidarisch sein müssen?

Diesen und vielen anderen Fragen rund um Identität und Post-Identität im digitalen Raum stellt sich paraflows .XII.

Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger